Wenn aus Fehlern Fährten werden

Wissenschaftsphilosophie für die Medikamentenforschung: In einem Kurs lernen Pharmazeutik-Studierende, wie sich Theorie, Methode und Experiment auf ein wissenschaftliches Ergebnis auswirken und wie sie die Aussagekraft der Resultate beurteilen können.

issenschaftliche Bilder sind wie Fenster zum Innern dieser Früchte – wer sie deutet, muss beachten, was sie genau abbilden und was nicht. (Bild: Markus Rudin / IBT)
Wissenschaftliche Bilder sind wie Fenster zum Innern dieser Fr¨¹chte ¨C wer sie deutet, muss beachten, was sie genau abbilden und was nicht. (Bild: Markus Rudin / IBT)

Was passiert im Hirn, wenn Menschen l¨¹gen? Es ist Freitagnachmittag im ?F¨¹nffinger Dock? auf dem Ó¢»ÊÓéÀÖ H?nggerberg. 18 Studierende der Pharmazeutischen Wissenschaften diskutieren ¨¹ber die Aussagekraft und die Grenzen von wissenschaftlichen Begriffen und Methoden. Drei von ihnen, Sara Dylgieri, Severin Lustenberger und Frederik Pei?ert, stellen ein Fallbeispiel vor. Darin haben Forschende untersucht, welche Hirnregionen beim L¨¹gen aktiviert werden. Sie stellten fest, dass stirnseitige und seitliche Hirnregionen aktiv sind, wenn jemand l¨¹gt, und dass andere Hirnregionen aktiv sind, wenn man sich eine L¨¹ge ausdenkt als wenn man sie ?ussert.

Die Diskussion der Studierenden freilich kreist weniger um das Ergebnis als vielmehr darum, wie es zustande kam. Das Vorgehen sei typisch f¨¹r wissenschaftliche Forschung, res¨¹mieren sie. Die Forschenden arbeiteten mit theoretischen Annahmen, sogenannten Hypothesen, die sie experimentell untersuchten. Sie verglichen ihr Ergebnis mit den bestehenden Erkenntnissen aus der Forschungsliteratur und schl?ssen daraus auf die derzeit bestm?gliche Erkl?rung.

Intensiv diskutieren die Studierenden die Annahmen, die der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) zugrunde liegen. Dieses bildgebende Verfahren wird eingesetzt, um aktivierte Hirnregionen mit hoher r?umlicher Aufl?sung in einem digitalen Bild farbig darzustellen. Genau genommen misst die fMRI allerdings den Sauerstoff und den Blutfluss in den Gef?ssen. Der Schluss auf die Hirnaktivit?ten erfolgt somit indirekt.

Aus Bildern die richtigen Schl¨¹sse zu ziehen, setzt methodisches Wissen voraus, was genau gemessen wird und wie ein Bild entsteht. Bildgebung umfasst n?mlich mehrere, nicht immer v?llig durchsichtige und eindeutige ??bersetzungsschritte?: biologische Eigenschaften werden in physikalische Messgr?ssen ¨¹bertragen, mathematisch in r?umliche Koordinaten umgerechnet und zu einem digitalen Bild zusammengesetzt.

Ausw?hlen: Keine Methode sagt alles

Das Know-how, wie man die Annahmen, Begr¨¹ndungen und Folgerungen eines wissenschaftlichen Ansatzes einsch?tzt, haben sich die Pharmazeutik-Studierenden im Kurs ?Wissenschaftliche Begriffe und Methoden? angeeignet. Im Verlauf einer Woche erfahren sie, wie sich die Wahl einer bestimmten Theorie und Methode auf eine wissenschaftliche Arbeit auswirkt und worauf sie achten m¨¹ssen, wenn sie die grundlegenden Annahmen und Begriffe ihrer eigenen Projektarbeit ¨¹berpr¨¹fen.

?Wer eine offene Forschungsfrage untersucht, sollte begr¨¹nden k?nnen, welche Theorien, Herangehensweisen und Experimente sie oder er verwendet. Um die geeignetsten auszuw?hlen, muss man ihre St?rken und Grenzen kennen?, sagt Vivianne Otto, Privatdozentin am ETH-Institut f¨¹r Pharmazeutische Wissenschaften (IPW). Entworfen hat sie den Kurs zusammen mit Elvan Kut, ebenfalls Dozentin am IPW.  

Der Kurs ist Teil des komplett ¨¹berarbeiteten und seit Herbst 2017 erstmals angebotenen Masterstudiengangs f¨¹r Pharmazeutische Wissenschaften. Dieser bef?higt zum wissenschaftlichen Arbeiten in der Grundlagenforschung und in der Industrie (im Unterschied zum ?Master Pharmazie?, der auf die Arbeit in Apotheken vorbereitet).

Ausser den chemischen, physikalischen und biologischen Grundlagen, die es braucht, um neue Medikamente zu erforschen und zu entwickeln, vermittelt das Studium auch reflexive und praktische F?higkeiten wie Wissenschaftsphilosophie, Ethik, wissenschaftliches Schreiben, Biostatistik und Projektmanagement.

Ergebnisse zur Diskussion stellen

Zur Wissenschaft geh?rt auch, dass die Forschenden die G¨¹ltigkeit und Schl¨¹ssigkeit ihrer Erkenntnisse kritisch hinterfragen, und dass sie ihre Ergebnisse zur Diskussion stellen. Entsprechend ist der Kurs Teil der ?Critical Thinking?-Initiative der ETH Z¨¹rich.

?Die pharmazeutische Forschung verwendet und kombiniert heute hochentwickelte Techniken und rechnerische Methoden. Das erfordert viel Wissen und noch mehr Reflexion, um die brauchbarsten Ans?tze auszuw?hlen und zu beurteilen, was die Resultate jeweils aussagen?, sagt Kut. ?Deshalb vermitteln wir die Wissenschaftsphilosophie direkt im Zusammenhang mit aktuellen, naturwissenschaftlichen Methoden?, erkl?rt Norman Sieroka, Privatdozent f¨¹r Philosophie und Gesch?ftsf¨¹hrer des Turing Centre Z¨¹rich, und der dritte Dozent im Bund. ?Dazu haben wir an jedem Kurs-Tag einen Experten eingeladen, der den Studierenden Hintergr¨¹nde, M?glichkeiten und Grenzen topaktueller Forschungsmethoden erl?utert. ?

Experimente: Theorien testen, Neuland erkunden

Eine Schl¨¹sselrolle auf dem Weg zu anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen spielen Theorie und Experiment. ?Oft setzt man Experimente ein, um mehr ¨¹ber Theorien zu erfahren?, sagt Sieroka. Die Forschenden treffen im Rahmen einer Theorie bestimmte Annahmen, eben Hypothesen, und formulieren Wenn-Dann-Beziehungen. Diese untersuchen sie in Experimenten, wobei die Messdaten die theoretischen Annahmen st¨¹tzen oder schw?chen.

?Neben der Untersuchung von Theorien eignen sich Experimente auch, um unbekannte Bereiche und neue Ph?nomene zu untersuchen?, legt Sieroka weiter dar. Mit solchen ?explorativen? Experimenten lassen sich Regelm?ssigkeiten finden, Wenn-Dann-Beziehungen herleiten und neue Begriffe festlegen. Zudem gibt es Experimente ohne vorausgehende Theorie: zum Beispiel, wenn man intelligente Algorithmen einsetzt, um Regelm?ssigkeiten aus grossen Datenmengen herauszufiltern.

Die Studierenden nehmen die Unterscheidung interessiert und angetan auf und ¨¹bertragen sie auf die pharmazeutische Forschung: In der computergest¨¹tzten Medikamentenforschung, sagt einer, spiele das Testen von Theorien eine wichtige Rolle. Am Computer w¨¹rden die grundlegenden Annahmen simuliert und dann im Experiment ¨¹berpr¨¹ft. In Wirklichkeit verhielten sich die Molek¨¹le n?mlich nicht immer so wie in der Computersimulation.

Auf unerwartete Ereignisse bewusst reagieren zu k?nnen, sei ein Lernziel, sagt Otto: ?Nicht jedes seltsame Ergebnis muss ein Messfehler sein. Manchmal f¨¹hrt es vielmehr dazu, dass man eine theoretische Annahme ?ndern oder fallen lassen muss. ?

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